Richard Tuttle

«White Sails»

Ausstellung in der Galerie Annemarie Verna, 10. März bis 20. Mai 2000
 

Den Künstler Richard Tuttle und die Galerie Annemarie Verna verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Für die Galeristen hat das Werk des 1941 geborenen Amerikaners paradigmatischen Charakter. Es repräsentiert eine Kunstauffassung, welche sich in einem Zustande permanenter Reflexion befindet. Eine Kritik an Denk- und Sehgewohnheiten, an alten und neuen Kunstkonventionen und Übereinkünften erzeugt erst einen Hohlraum, der Neues, Anderes ermöglicht. Der Künstler ist derjenige, der die Spur legt, die zum Neuen führt und verführt. Er verschiebt die Standorte und Positionen innerhalb des künstlerischen Feldes, hebt das, was sich allzu leichtfertig verfestigt, aus seinem Gefüge, verpflichtet zu steter und äusserster Aufmerksamkeit. Dieses Neue, das sich nicht in der Falle des Neuen verfängt, das jeder linearen Entwicklungslogik eine Absage erteilt, ist die unbestimmte Konstante einer Funktion, der Funktion des Werkes.

Nun bestehen aber die Arbeiten von Richard Tuttle nicht aus abstrakten Konzepten und Spekulationen. Sie sind anschaulich, weltzugewandt. Ein formales und materielles Vokabular, das zwar nie im voraus determiniert erscheint, aber untergründig durch ein gemeinsames Idiom gebunden ist, charakterisiert die Werkgruppen, verbindet die Vielzahl von Werkfamilien.

In ihrer Materialität zumeist höchst empfindlich und zerbrechlich, verweisen die Arbeiten auf eine Zeitgebundenheit, die ihnen und dem Betrachter dasselbe antun, und verblüffen durch diese gleichsam nachlässige und ungezwungene Komplizenschaft, die sie gleichermassen unterstellen und anbieten. Der Betrachter kann nicht umhin, letztere entweder anzunehmen oder abzulehnen.

«White Sails» ist der Titel der elf Objekte, jedes 28 x 28 cm gross, welche die Ausstellung bestreiten. Der Auftritt ist grosszügig und die Wände der Galerie werden von den Werken mühelos in Anspruch genommen. Die Galerieräume sind das skulpturale Umfeld, das unmissverständlich zu diesen Arbeiten gehört. So diktieren sie Nahsicht und Fernsicht, formieren prägnante Zeichen oder geben vielfältige Nuancen preis, Feinheiten, Abstufungen, Tönungen, die zwischen intentionalen Setzungen und zufälligen Zuständlichkeiten oszillieren. Das kapitale, das grosse Kunstwerk ist hier gegenwärtig und dennoch nicht dingfest zu machen.

Seit 1974 gehen Richard Tuttle und die Galerie einen gemeinsamen Weg. Inzwischen haben zwölf Einzelausstellungen an wechselndem Domizil der Galerie stattgefunden. Die Ausstrahlung dieses ausserordentlichen Künstlers ist hierzulande genauso zu spüren, wie sie international wahrzunehmen ist. Richard Tuttle ist der unverwechselbare Einzelfall, der für manches zum Vorbild geworden ist, obschon dies einen Widerspruch in sich selbst darstellt.

 
Gianfranco Verna