Galeriebrief 3/2001

5. April bis 5. Mai 2001

MEASURE/MASS
ist Titel und Programm der Ausstellung. Werke von acht Künstlerinnen und Künstlern der Galerie sind zu sehen. Diese bilden ein anspruchs-volles und vieldeutiges Beziehungsfeld. Ein Interplay ist angesprochen, das auf vielen Ebenen spielt und keinem vorgegebenen Text entspricht. Die künstlerische Autonomie und Präsenz von Werk und Künstlerpersönlichkeit werden nicht angetastet. Leitlinie ist eine Oekonomie der Mittel, ein Masshalten bezüglich des Aufwandes. Konzentration und Aufmerksamkeit, die Leistungsfähigkeit der Vorstellungskraft sind gefordert. Kunst konstruiert Wirklichkeit. Visuelle Intelligenz ordnet und deutet unaufhörlich die Welt der Erscheinungen – ein Basis-thema der bildenden Kunst. Perspektivisches, distanziertes Sehen ist eine tagtägliche Leistung des Einzelnen und der Gesellschaft, Deutung schafft Bedeutung.

Mit Werken vertreten sind in dieser Schau Rita McBride, Sylvia Plimack Mangold, Agnes Martin, James Bishop, Joseph Egan, Robert Ryman, Fred Sandback und Richard Tuttle. Die künstlerischen Strategien generieren eine eigenständige Logik vernetzter Interaktion. Rekursive, interne Massgefüge korrelieren mit externen Massbezügen, die in einzelnen Fällen intentional gesetzt und definiert sind.

«Exact and Diminishing», ein Werk von Sylvia Plimack Mangold von 1976, veranschaulicht alle Theorie in prägnanter Weise. Ein mit Platten ausgelegter Fussboden ist dargestellt, in Trompe-l'oeil-Manier zentralperspektivisch gemalt. Zwei gemalte Zollstöcke sind in das Bild integriert. Am linken Bildrand vermisst ein Zollstock massstabgetreu das Bildformat. Der Zollstock im Zentrum des Bildes verhält sich perspektivisch, der Fiktionalität der Bildräumlichkeit, der er-zeugten Illusion entsprechend. Beide Wirklichkeitsebenen sind in sich konsistent und verwickeln den Betrachter in eine fruchtbare Paradoxie.

Hinweis

RITA McBRIDE wird von den Galerien Mai 36 und Annemarie Verna gemeinsam vertreten. Die 1960 geborene amerikanische Künstlerin wurde 1999 mit einer repräsentativen Ausstellung in beiden Galerien vorgestellt. Nun folgt eine Schau mit neuen Arbeiten in der Mai 36 Galerie (5. April bis 26. Mai 2001). Für Frühjahr 2002 ist eine weitere Ausstellung mit installativen Arbeiten in der Annemarie Verna Galerie geplant.

Rita McBride benennt ihre Ausstellungen; «Machines» im vorliegenden Fall. Sie entnimmt ihr Form- und Sinnmaterial dem modernen, urbanen Lebensraum. In der Geschichte der modernen Architektur und des Designs, sowohl in ihrer heroischen wie trivialen Ausformulierung, findet sie gesellschaftliche Symbole und Verkehrsformen abgebildet. Mit Präzision und Klugheit selektiert sie die Vorlagen für ihre Objekte und Installationen und nutzt Verfremdungsangebote, um verdrängte und verschleierte Potenziale und Kapazitäten offen zu legen. Gebrauchsgegen-stände, Architekturfragmente, Architekturzitate werden ihrer instrumentellen Tauglichkeit be-raubt und werden zum Kunstobjekt. Die Material- und Kontextveränderung, zuweilen auch eine massstäbliche Reduktion demonstriert diese Mutation zum symbolischen Zeichen. Dabei bleibt es bei einem Changieren zwischen Gebrauchs- und Ausdruckswert. Dies ist weniger eine Kritik an Modernismus und Funktionalismus. Vielmehr verweist die ästhetische Analyse auf den Pluralismus des funktionellen Vorhabens. Formales und funktionales Kalkül enthüllen gnaden-los die eigene Historizität. Die Frage wird gestellt, ob Gegenwart und Gegenwärtigkeit als rethorische Figur zu verstehen sind und ob Modernität einem endlosen Regress ausgesetzt ist.